Beziehungsfähig … oder Beziehungsunfähig
Im letzten Jahrhundert, und wahrscheinlich auch im vorletzten Jahrhundert, haben Menschen für die freie Wahl in den verschiedensten Bereichen ihres Lebens gekämpft. Zu dieser Wahlfreiheit gehörte auch die freie Partnerwahl. Grundlage ihrer Partnerwahl sollten zukünftig ihre eigenen Gefühle für diesen Menschen sein, nicht politische, familienpolitische oder gesellschaftliche Überlegungen. Die Soziologie nennt dies die „positive Wahl“, die Wahlentscheidung für etwas.
Inzwischen hat sich einiges verändert. In meiner Praxis zeigt sich dies u.a. darin, dass Menschen sich „für nicht beziehungsfähig“ oder „nicht bindungsfähig“ halten. Wie man sich denken kann, handelt es sich um durchaus beziehungswillige Menschen, die immer wieder auch Beziehungen eingehen, die dann aber tatsächlich immer wieder in die Brüche gehen; meist nach recht kurzer Zeit. Wenn ich diesen Menschen in ihrer Not sehr genau zuhöre, entdecke ich oft eine negative Haltung dem Partner gegenüber. Es wird mehr nach Gründen gegen diesen Partner gesucht und besprochen als umgekehrt. Und trotzdem bleibt man in dieser Beziehung mehr oder weniger lange verhaften, kann sich nicht lösen.
Andere Menschen können sich aus unbefriedigenden Beziehungen lösen, tun dies aber so schnell und schon bei geringsten Unstimmigkeiten. So dass auch hier mehr eine „Gegenhaltung“ erkennbar ist als ein „ich will mit dir zusammen sein“. Woher kommen diese Probleme also? Wo die betroffenen Menschen sich doch so sehr eine Beziehung wünschen.
„Negative Wahl“ nennt die Soziologie dieses Wahlverhalten. Es besagt, dass die Wahl nicht für eine Beziehung, eine Bindung, mit der Person der Wahl getroffen wird und im Bestreben des Menschen liegt, sondern, dass die Möglichkeit, den Partner abzulehnen zum besonderen Freiheitsverständnis des Wählenden gehört. Die „Kontaktbörse“ Tinder ist dafür wohl das beste Beispiel. Technisch organisiert und anonymisiert, genügt eine einzige Fingerbewegung um eine Wahl zu treffen…meist eine Abwahl, eine „negative Wahl“.
Einer meiner Klienten hat es so formuliert: „All zu viel Nähe will ich nicht. Da ist die Trennung umso schwerer“. Die Angst vor einem Ende ist also so groß, dass ein Einlassen auf das Gegenüber von vorneherein vermieden wird. Also wird von vorneherein „dagegen“ entschieden. Wie soll es da möglich sein sich zu verlieben? Wie soll es da möglich sein sich für einen Menschen zu begeistern? Ist Ihnen liebe Leserin, lieber Leser, schon einmal aufgefallen, dass wir in unserer Welt keine Idole mehr haben? Anna Lena Baerbock wurde gedisst, öffenlich an den Pranger gestellt, weil sie ihren Lebenslauf geschönt hat (ganz nebenbei ist diese Praxis durchaus üblich, und dies nicht erst seit gestern). Politikerinnen wie sie werden durch die Medien gepeitscht, weil sie einmal einen „flapsigen“ Satz gesagt hat. Die finnische Ministerpräsidentin Sanna Mirella Marin wurde kritisiert, weil sie ausgelassen getanzt hat. Beide Frauen sind mit ihrer politischen Arbeit gerade überaus erfolgreich und haben das Potenzial zum Politstar. Nun will ich nicht behaupten, dass sie von allen Bürgern durch den Kakao gezogen werden. Entscheidend ist hier eher, dass es ein öffentliches Interesse zu geben scheint, endlich Fehler an diesen Personen zu finden (wäre es nicht so, würden die Medien nicht berichten). Fände man genug Fehler, gäbe es endlich gute Gründe sich „gegen sie zu entscheiden“.
Genau so funktionieren Beziehungen im Privaten auch.
So viel sei an dieser Stelle noch gesagt: Wenn Sie in glücklichen Beziehung leben wollen, dann beginnen Sie wieder mit der „positiven Wahl“ für Ihr Gegenüber. Reden Sie über das was Sie verbindet, nicht über das Trennende. Verwechseln Sie das bitte nicht mit „positiv Denken“ – gelinde gesagt ist dies Unsinn und stütz eher die „Negativwahl“.